Nach den letzten Häusern Gullminnes kamen ein paar Wiesen und Weiden, dann schloss sich Wald an. Um die Baumgrenze zu erreichen, war ein Fußgänger etwas fünfzehn Minuten unterwegs.
Wie immer in den Morgenstunden hatte Cyrgaya sich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg gemacht. Sie hatte den Wald durchquert, was sie noch einmal die gleiche Zeit gekostet hatte, bis sie den Felsen auf der Höhe erreichte. Er lag auf einer weiten Lichtung und wurde in der Frühe immer von den ersten Sonnenstrahlen geküsst.
Die alte Frau kletterte den Felsen hinauf und stellte sich mit dem Gesicht der aufgehenden Sonne entgegen.
Als das Licht auf der Kante des Horizontes zu gleißen begann, erhob sie die Stimme und breitete die Arme aus. Auf den Schuppen ihres Gesichtes und der Hände brachen sich die ersten Sonnenstrahlen tausendfach, so dass es den Anschein hatte, sie selbst würde erstrahlen...
Je weiter das Lied fortschritt, desto mehr verfestigte sich die Magie in ihrer Umgebung, bis sie ein greifbarer Faktor wurde. Lichtpunkte begannen um sie herum zu tanzen, als sie die alten Kräfte in die Welt rief, die sich um sie konzentrierten und dann schließlich in ihren Körper eindrangen... Der goldene karfunkel in ihrer Kehle leuchtete hell.
Ril'afay war dem Gesang gefolgt und hatte sich bei einem Busch verborgen. Sie beobachtete das Schauspiel interessiert, das sich da vor ihr ereignete, trat aber nicht näher herann.
Die Energien, die sich hier konzentrierten, waren mit einer uralten Signatur versehen... älter, viel, viel älter als die Rasse der Drow oder der Elben und erst recht der Menschen. Sie war so machtvoll, dass die Tiere des Waldes innehielten, Vögel im Umkreis verstummten. Die Welt lauschte.
Bei der jungen Drow mussten sich die feinen Härchen überall aufrichten, es war wie Elektrizität in der luft.
Ril'afay schloss die Augen und ließ das Ganze ohne den Teuschenden Sinn der normalen Sicht auf sie wirken. als die Kreise abzuebben begannen zog sie sich dann langsam zurück.
Cyrgaya hörte das Geräusch. "Warum versteckst Du Dich, mein Kind?" fragte sie offen und kam von dem Felsen herunter. Das Licht des karfunkles in ihrer Kehle war erloschen.
Ril'afay sah etwas erschrocken auf. "Ich...." dann besann sie sich und richtete sich stolz auf. "ich bin kein Kind! und ich wollte Euch nicht stören." erklärte sie sich.
Vor Ril'afay stand eine etwas absonderliche alte Frau, die noch immer von der uralten Aura umgeben war. "Gemessen an den verstrichenen Zeitaltern bist Du kaum mehr als ein Kind, verlorene Tochter. Völker kommen und gehen, Rassen ebenso... Nur Erinnerungen bleiben."
Cyrgaya lächelte sie an. "Gemessen an der Lebensspanne der Alten bist Du es immernoch... Willst Du mit mir zurückgehen? Oder hast Du hier im Wald noch etwas zu tun?"
Wieder lächelte die Alte und die Schuppen ihres Gesichtes schoben sich ein wenig nach oben. "Dieser Gesang ist Teil meines Lebens - ohne ihn kann ich in dieser Welt nicht leben. Mein Name ist Cyrgaya, was in Eurer Sprache so viel wie 'Kämpferin der alten Macht' bedeutet." Über die Schultern der alten lugten die Goldenen Griffe zweier Kurzschwerter.