Es wurde Abend in Gullminne. Ry'Kah hatte sich in ihren warmen Mantel gehüllt. An diesem Abend in diesem Jahr wollte sie endlich den Erzählungen nachgehen, die die Menschen ihr zugetragen hatten. Iliah schlief bereits und die Kinderfrau war im Haus. Rel'Nag war noch unten in den Heeresquartieren. Er hatte mal wieder irgendwelche Dinge zu klären. Leise verließ die Hohepriesterin das Haus. Sie hatte die Haare zusammengebunden und in der Kapuze verborgen. Keinerlei Schmuck oder Zierat glänzte, so dass es für die Augen der Menschen schwer sein würde, sie zu sehen. Langsam ging sie durch die tief verschneiten Straßen Gullminnes und betrachtete die Häuser, die geschmückt und mit vielen Kerzen zum Leuchten gebracht worden waren. Die strenge Kälte der letzten Nächte hatte an viele Fenster Eisblumen gezaubert. Die Schritte der Priesterin fanden den Weg in den alten Ortskern, wo ein altes Gotteshaus stand, in dem sich die Menschen immer wieder einfanden. Sie suchten hier Stille, zum Teil das Gebet. Dieses Haus hatte nichts mit dem Gott des Feuers zu tun - es war so alt, dass nicht einmal die Menschen erinnerten, wer es gebaut hatte, wann, oder gar warum. Es war ein großer, hoher Raum, der edle bunte Fenster aus farbigem Glas hatte. Bilder gab es auch, die an die Wände gemalt waren, die Szenen aus irgendeiner Geschichte zeigten, deren Inhalt aber keiner mehr kannte. Es ging um ein Kind und viele Dinge, die es erlebte, bis es heranwuchs und geopfert wurde. An diesem Abend strömten die Menschen wieder in das steinerne Haus mit den bunten Fenstern. Ry'Kah wusste, sie würden gemeinsam über einige Dinge sprechen - und sie würden singen. Und genau das war es, was die Priesterin lockte. Zum Abschluss ihres Treffens wurde ein uraltes Lied gesungen, dessen Text in einer fremden Sprache war, die keiner übersetzen konnte. Sie betrat mit einer Gruppe Rivvin dies Haus und hielt sich in einer dunklen Ecke, von wo aus sie den Ereignissen folgen konnte. Die Menschen hatten eine Tanne aus dem Wald geholt und aufgestellt, die sie mit Äpfeln, Nüssen und Kerzen geschmückt hatten. Diese riesige Tanne verbreitete einen feinen Duft in dem kalten hohen Raum, der der Stimmung etwas ganz eigenes verlieh.
Plötzlich erhob sich eine einzelne Stimme und begann die unbekannten Worte zu singen:
Stille Nacht, Heilige Nacht Stille Nacht, Heilige Nacht Alles schläft, einsam wacht nur das traute hochheilige Paar, holder Knabe im lockigen Haar, Schlaf in Himmlischer Ruh schlaf in himmlischer Ruh
Dann fielen die anderen ein und alle sangen dieses Lied...
Stille Nacht, Heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, Da uns schägt die rettende Stund, Christ, in deiner Geburt! Christ, in deiner Geburt!
Stille Nacht! Heil'ge Nacht! Die der Welt Heil gebracht, Aus des Himmels goldenen Höhn, Uns der Gnaden Fülle läßt sehn, Jesum in Menschengestalt! Jesum in Menschengestalt!
Stille Nacht! Heil'ge Nacht! Wo sich heut alle Macht Väterlicher Liebe ergoß, Und als Bruder huldvoll umschloß Jesus die Völker der Welt! Jesus die Völker der Welt!
Stille Nacht! Heil'ge Nacht! Lange schon uns bedacht, Als der Herr vom Grimme befreit In der Väter urgrauer Zeit Aller Welt Schonung verhieß! Aller Welt Schonung verhieß!
Stille Nacht, Heilige Nacht, Hirten erst, kund gemacht! Durch der Engel Haleluja Tönt es laut von fern und nah: Christ der Retter ist da! Christ der Retter ist da!
Im laufe des Liedes war einer an die Fackeln getreten, die den Raum erhellten, und hatte sie nach und nach gelöscht.
Schließlich erhellte nur noch der Baum den Raum und schuf ein sanftes Schimmern, dass sich auf einzelnen Kristallen und filigranen Einlegearbeiten in den Bildern spiegelte. Es sah aus, als wären tausende von Sternen in diesem Raum gefangen und schimmerten dort nur für die singenden Menschen.
Gebannt und tief bewegt stand die Hohepriesterin im Hintergrund und lauschte, als sich eine atemlose Stille im Raum ausbreitete und die letzten Noten verklangen. Die Stille, die folgte, war ebenso bewegend, wie das, was in diesem Lied mitgeklungen hatte...