Die kleine, heruntergekommene Kapelle nahe der Stadtgrenze besteht aus kaum mehr als aus ein einem schlichten Fachwerkbau mit einem windschiefen, hölzernen Glockentürmchen.
Unmittelbar daneben befindet sich der Eingang zum Friedhof der einfachen Menschen, der von einem mehr oder minder verbogenen schmiedeeisernen Zaum umschlossen wird. Das leise vor sich hin rostende Tor gibt den Blick auf einen friedlichen Garten mit etwa 50 einfachen Grabsteinen frei. Mannshohe Hecken und Büsche säumen die Wege wie ein kleines Labyrinth, dazwischen sind liebevoll Blumen und Gräser auf die Grabhügel gepflanzt. Auf vielen Gräbern sind achtsam kleine Laternen mit rötlich glimmenden Flammen platziert, welche die Szenerie des Nachts in ein warmes Zwielicht tauchen.
Im hinteren Bereich thront still eine beschauliche Krypta aus ehemals getünchtem Kalkstein mit versiegelten, hölzernen Flügeltüren, sowie einem kleinen Ziehbrunnen.
Es war schon beinahe dunkel, als Valerian einige Tage nach den Vorfällen am Kieselstein quietschend das Tor öffnete und den Friedhof betrat. Der aufgehende Mond ließ die Grabsteine lange Schatten werfen, zwischen den Hecken strahlten die roten Flammen wie kleine Irrlichter.
Zielsicher folgte Valerian seinem Weg im Halbdunkel zwischen den verworrenen Hecken entlang zum Brunnen vor der Krypta. Nahezu geräuschlos zog er den Eimer hinauf und befüllte seinen ledernen Beutel mit dem Friedhofswasser ohne einen Tropfen zu verschütten. Er griff in seine Tasche und holte eine einfache metallische Laterne hervor, deren Docht er mit andächtiger Präzision an der Feuerschale der Krypta entzündete.
Die Sonne hatte mittlerweile den Himmel gänzlich dem fahlen Halbmond überlassen. Zarte Wolkenschleier umspielten sanft den Sternenhimmel. Valerian schloss die Augen und atmete die angenehm kühle Nachtluft. Von einer seltsamen inneren Ruhe geführt, bewegte sich sicheren Schrittes auf eine liebevoll gepflegte Parzelle zu.
Er kniete nieder und griff kraftvoll in die weiche Grabeserde. Minutenlang verweilte er schweigend so, als würde er mit dem Boden verwurzeln wollen.
Daraufhin leerte er einen Teil seines Wasserbeutels auf die Nelken, die das Grab säumten und säuberte sorgfältig mit der Hand die verwitterte Inschrift auf dem Stein, die da lautete:
"Hier ruht Cassandra Immergrün. Ein Leben für ein Leben."
Valerian tauschte bedächtig die rötlich glimmende Laterne gegen ein erloschenes Pendant und nahm letztere an sich. Schließlich erhob er sich mit einer merkwürdigen Anmut, worauf er langsam in Richtung Friedhofspforte schritt.
Wenige Abende darauf betrat Valerian erneut den Friedhof. Seine typischen trippelden Schritte schienen spontan ruhiger zu werden. Erneut widerholte sich die Prozedur in scheinbar identischer Manier. Es wirkte beinahe so, als würden Stolpersteinchen und tückische Baumwurzeln im Halbdunkel heimlich zurückweichen.
"Mutter.."
formten Valerians Lippen, als er sich wieder an das Grab beugte und seine Hände in das feuchte Erdreich tauchte und so verweilte.