Nach und nach hatte auch Valerian die Zeit gefunden, sein eigenes bescheidenes Reich zu gestalten. Von keiner speziellen Stilrichtung geprägt, ließ das Zimmer auf den ersten Blick vor allem eines erahnen:
Die Person, die hier lebte, hatte überhaupt keinen Geschmack…
Wände und Decken waren „nur“ in einem unsauberen Zinnoberton gehalten, doch potthässliche Wandteppiche mit grün-gräulichen Naturmotiven sprangen jedes bemitleidenswerte Auge sofort gnadenlos an wie monströse Heuschrecken. Ein purpurfarbener „Haufen“ aus einfachen Wolldecken und bunt zusammengewürfelten Samtkissen bildete die Schlafstatt im hinteren Teil des Raumes. Rechts neben der Tür prangerte ein übergroßer und ebenso schäbiger hölzerner Sekretär mit diversen erdbraunen Schubladen und Fächern. Daneben flegelte ein schiefer Kleiderschrank aus unpassend hellem, aber vergleichbar drittklassigem Holz, welcher wohl kaum eine geschmackvollere Garderobe beinhalten würde… Ein halbleeres, kitschig-bonbonfarben bemaltes Bücherregal schaute nicht minder traurig von links herüber und wusste scheinbar nicht, ob es zuerst über das eigelbfarbene gehäkelte Tischtuch des Nachbartisches oder über den schwarzen, krakenartigen Leuchter weinen sollte, welcher den Raum wie ein achtarmiges Damoklesschwert überschattete.
Während Valerian auf neue Aufgaben wartete, zog er sich wieder in sein bescheidenes Reich zurück. Er blickte sich hastig auf dem Korridor um und schloss die Tür hinter sich ab.
Valerian kniete sich vor dem hässlichen Kleiderschrank nieder und griff vorsichtig hinter die schiefe Rückwand. Hervor holte er einige ledern eingefasste, aber recht zerfledderte Pergamente, die er damals noch im Hause seines Vaters unwillentlich beschädigt hatte. Er hatte sich nie getraut, ihm den Schaden zu gestehen. Ebenso ergriff ihn aber auch die Neugier, sich diese interessanten Dinge genauer anzusehen, obgleich er eine Angst vor selbigen teebefleckten Papieren hatte, als könnte jeden Moment ein Dämon aus diesen herausspringen.
Er öffnete raschelnd die gesiegelte Manschette und klappe den den ledernen Schutzumschlag beiseite.
Die ersten Seiten enthielten zu Valerians Überraschung recht präzise Beschreibungen einzelner Lehrlingszauber und ihrer praktischen Anwendung in der Kräuterkunde und Alchimie. Das Meiste davon war ihm bereits bekannt. Er erinnerte sich an fast wortwörtlich identische Unterweisungen seines alten Herrn... und daran, dass er selbst nie besonderes Talent in der magischen Ausführung, sowie erst recht nicht für die Alchimie hatte. Unendliche Nächte in denen er wach blieb und heimlich übte- meist vergeblich. Ein Gefühl von Melancholie, aber auch Ehrgeiz überwältige Valerian. Was, wenn sich diese Blockade vielleicht gelöst hatte? Was, wenn er plötzlich doch ein Talent für das magische Gewebe entwickelt hätte? Er MUSSTE es herausfinden!
Der erste beschriebene Zauber war "Magie spüren". Valerian erkannte ihn. Dies war auch sein erster Zauber, den er nach ewigen Konzentrationsübungen erlernt hatte. Doch die komplexen geometrischen Muster und die mathematisch kalkulierten Magieströme, wie sie dort und in anderen ihm bekannten Büchern beschrieben waren, hatten so wenig mit der Weise gemein, wie er diesen Zauber anwendete. Solche berechnende Präzision war ihm so fremd. So sehr er auch versuchte, durch systematische Manipulation das Gewebe zu formen, so wenig erfolgversprechend waren die Ergebnisse. Valerian erinnerte sich, mit welchem Schmerz diese Lektionen verbunden waren. Jeder Tag, der keine Verbesserungen mit sich brachte, wurde mit Züchtigung vergolten- und davon gab es unzählbar viele. Sicher war es nur seine eigene Unfähigkeit, die ihn damals vom Erfolg abhielt und sein Vater hatte es gut gemeint. Irgendwann jedoch, als die Furcht vor weiteren Fehlschlägen ins Unermessliche wuchs, offenbarte sich ihm den Nachts beim verzweifelten Üben eine andere Form der magischen Anwendung: ein subtileres, unterbewusstes Verständnis. Das Gefühl einer inneren Weisheit, eines Einklangs mit dem Gewebe, wenn auch bewusst erzwungen. Ein winziges emotionales Streicheln, welches die Magie formte, anstatt sie systematisch zu "zerschneiden". Die Bilder der Vergangenheit überfluteten ihn einen kurzen Moment.
Er konzentrierte sich auf den Zauber, wie ER ihn gelernt hatte.. Valerian spürte das Gewebe in ihm und wie es sich durch seinen unterbewussten Wunsch zu bewegen begann. Formen und Ströme blieben in ihrer wunderbaren Einzigartigkeit bestehen und ließen sich doch durch Worte und Gesten zu einem großen Ganzen gestalten.
"Sssssssentiooo Magicaaa-"
Er verwob die Hände in sein Werk und legte dieses wie ein filigranes Spinnennetz über die Umgebung vor ihm. Feinste magische Impulse gingen von dem beschädigten Siegel des Pergamentumschlags aus und wurden über die "Fäden" als leichte Vibration zu seinen Händen geleitet. Valerian beendete seine Konzentration zufrieden. Er warf erneut einen Blick auf die mathematische Thesis des Spruches in den Pergamenten. Das große Muster war ähnlich... doch der Weg und die Einzelteile waren so verschieden wie Tag und Nacht...
Er blätterte hastig weiter. "Gift spüren" -ein weiterer Meilenstein. Seine zweite Errungenschaft ging ihm damals vergleichsweise schnell von der Hand. Ähnliche Muster vermochten bald darauf schädliche Substanzen der Umgebung wahrnehmbar zu machen. Auch hier war die Bekannte Dissonanz in der Struktur überdeutlich.
Valerian war ein jedes Mal wieder irritiert, wenn ihm solche Unterschiede in der Magie auffielen. Er schien besorgt. Gedanken spukten in seinem Kopf herum: "Bin ich krank?", "Bin ich auf einem falschen Weg?", "Bin ich wohlmöglich gefährlich?". Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinunter. Er musste versuchen, die Magie "richtig" zu erlenen, pochte es in seinem Hinterkopf. Am besten mit einem einfachen neuen Spruch.
Er legte die obersten Blätter beiseite und blickte auf eine magische Thesis, die er zwar aus alten Tagen kannte, sie jedoch niemals beherrschte.
"Feuerfinger..."
Sprach er nicht ohne ein wehmütiges Seufzen in seiner Stimme. Viele Mühen und doch vergebens, erinnerte er sich. Sein inneres Wesen wollte sich bisher nie auf diese elementare Erscheinung einstellen. Genau dieser Zauber sollte ihm dabei helfen, sein mäßiges Talent in die richtigen Bahnen zu lenken, überlegte er unterbewusst. Valerian griff nach einem eisernen Kerzenleuchter auf dem Tisch und kniete sich wieder auf den Boden. Er studierte die Anleitung erneut und versuchte sich an frühere Unterweisungen zu erinnern. Die strukturierte Vorgehensweise war ihm nicht fremd, doch der gewaltsam manipulative Umgang mit dem Gewebe schien ihm beinahe psychische Schmerzen zuzufügen. Er konzentrierte sich auf die Ströme der Magie und versuchte sie mit seinen Gedanken zu zerschneiden und andersartig zusammenzusetzen. Jeder Schnitt, jeder künstliche Knoten war eine Gewalttat am Gewebe für ihn. Angestrengt zerriss er mit Händen und Worten "unnütze" magische Fäden, wie in den Pergamenten beschrieben...
Das Gewebe "wehrte" sich und wollte einfach nicht die gewünschte Ordnung einnehmen, sondern brach ständig an jeder Ecke wieder aus... zerstörte Ströme fügten sich falsch zusammen, künstliche Muster waren instabil. Minutenlang versuchte er angespannt die korrekte Form aufrechtzuerhalten, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb, doch erfolglos. Er kannte dieses Gefühl... er kannte es nur zu gut... Valerian seufzte. Doch das durfte nicht das letzte Wort gewesen sein! Er musste es einfach schaffen- irgendwie! Erschöpft von dem gescheiterten Versuch leerte er einen Krug Wasser in einem einzigen Zug. War es der Zauber, der ihm so zu schaffen machte oder die Vorgehensweise..? Valerian grübelte. Es ließ ihm keine Ruhe, ein Gegenbeweis musste her! Er beschloss für sich, diesen Zauber auf seine Weise zu versuchen. Unter Zuhilfenahme der Pergamente zeichnete er ein eigenes Muster in sein Zauberbuch- ein Muster, dass die Eigenheiten der Ströme mehr "respektierte", so wie er diese wahrnahm. Valerian nahm seine restlichen Energien zusammen und konzentrierte sich erneut auf das Gewebe in ihm. Diesmal ließ er die Muster sanft ihre eigene Form finden, seine unterschwelligen Eingebungen bewegten diese wie weichen Ton, ohne sie zu beschädigen oder ihre "Natur" zu verändern. Sein Unterbewusstsein formte Gesten und Worte...
Es klopfte an der Tür - nicht gerade einfühlsam. Keine Antwort oder gar Reaktion abwartend wurde auch schon schwungvoll die Tür geöffnet. Khalek Schattenherz, Valerians Herr und Arbeitgeber, stand in der Tür.
Valerian zuckte zu Tode erschrocken zusammen, als Khalek durch die Tür platzte.
Einen kurzen Sekundenbruchteil bevor seine Konzentration jäh unterbrochen wurde, spürte Valerian ein Aufblitzen glühender Hitze, ein brennendes Verlangen, welches das magische Muster durchzuckte. Doch durch die Unterbrechung oder mangelnde Konzentration vermochte er dieses Aufglimmen nicht mehr kontrolliert in seine Fingerspitzen zu leiten und selbiges Muster "explodierte" förmlich in seinem Inneren.
Plötzlich sprühten völlig unkoordiniert Funken aus Valerians Körperöffnungen. Aus Ohren, Augen, Nase und Mund des kreischenden Valerian entwich eine glimmende Rauchwolke, hinterließ leichte Brandspuren und entzündete seinen roten Schal. Valerian brach in Panik aus und tobte desorientiert im Zimmer herum, wie ein kleiner Feuerirrwisch...
Khalek schüttelte den Kopf, nahm ein runenverziertes Holzstäbchen aus einer seiner vielen Gürteltaschen, berührte damit Valerian und sprach die Zauberformel zum Aufheben von Magie:
"Vas Magia Perdo Magia"
Er zerbrach das Holzstäbchen und kurz darauf erloschen alle Flammen wie von selbst.
"Narr! Du musst aufpassen mit der Magie!"
schellte Khalek Valerian.
"Du hättest mit deinem Mangel an Konzentration fast mein neues Haus in Schutt und Asche gelegt. Willst du die Magie von mir erlernen?"
Valerian japste nach Luft. Sein Gesicht war rußgeschwärzt und schmerzte heftig. Es dauerte einen Moment, bis er antworten konnte.
"Meister, das... d-das ist so ein großmütiges Angebot..."
Bilder seines Vaters mit einer Bullenpeitsche in der einen Hand und dem Zauberbuch in der anderen huschten durch seinen Geist...
"...a-aber..."
Valerian begann zu schwitzen und blickte nervös im Raum herum..
"..ich.. mein.. ähm.. mangelndes Talent ist eurer kostbaren Zeit keinesfalls würdig... Verzeiht, d-das ich euer Heim in Gefahr gebracht habe... i-ich werde natürlich jegliche magische Studien an.. einen sicheren entfernten Ort verlegen.."
"Du wirst dich morgen Vormittag nach meinem Frühstück am Obsidiantisch in der Halle auf mich warten. Sei gerüstet! Und nun mach die Tür auf! Es hat jemand geklopft!"
Khalek verließ Valerians Zimmer und eilte die Treppe rauf in Richtung seines Arbeitszimmers, in dem er auch baldig verschwand.
Valerian schluckte. Genau das hatte er nicht gewollt... Der Meister würde seine magische Unfähigkeit in ihrem ganzen Ausmaß bloßstellen- und schlimmer noch- vielleicht würde er oder jemand anderes schweren Schaden nehmen- vielleicht würde er sogar aus dem Haus verbannt werden...
Ein schrecklicher Gedanke jagte den anderen, als Valerian die Treppe hinunter zur Eingangstür humpelte.
Valerian plumste erschöft vornüber auf sein Bett. Er strampelte sich von seinen Kleidern frei und kuschelte sich zwischen die Kissen. In der Hand hielt er den Schal mit den Beweisen, dass der Tag keine Einbildung war... Der Schal duftete immernoch nach ihr. Schöne Bilder huschten durch seinen Kopf... er war so müde...