Shylocks Gedanken begannen zu arbeiten. Sein Gegenüber war jemand, der in die Geheimnisse des Drachenfestes eingeweiht war, wenn sie nicht sogar jemand war, der dieses Drachenfest besuchte! Das Ziel rückte ein Stückchen näher.
"Sirgal, ich merke, das ich es bei Euch mit jemanden zu tun habe, der einiges weiß. Deswegen will ich euch noch etwas berichten, was während dieser Unterredung passierte."
Langsam trank Shylock einen Schluck seines Tees. "Als ich das Pergament gelesen hatte, wußte ich worum es geht. Es geht meinem Auftraggeber weniger um den Mord, es geht ihm um die Waffe. Denn soweit ich verstanden habe, sind die Avatare nicht so leicht zu töten. Ich sagte dies meinem Gegenüber direkt auf den Kopf zu. Daraufhin sah ich etwas, was mehr als seltsam war; die Kapuze verdeckte zwar das gesamte Gesicht, aber die Augen glühten rot auf."
Die Aussage rang Sirgal keine Reaktion ab. Gut, er konnte nicht wissen, dass sie oft mit magischen Wesen von Drachen bis Drow und Dämonen zu tun hatte... "Xas, und weiter?"
Shylock stutzte. Xas? Was war das für eine Sprache?
"Nun, in meiner Heimat sind rotleuchtende Augen ungefähr so selten, wie einen Diamanten bei einem Bauern zu finden. Würde ich es nicht besser wissen, so würde ich auf Magie tippen, aber in meiner Heimat gibt es keine Magie."
Langsam klopfte Shylock seine Pfeife aus. "Sagt, stört es euch, wenn ich rauche?"
Shylock lachte. "Mein Meister hat mir beigebracht, das man seine Sinne nie vernebeln darf, wenn man sie braucht. Daher ist es einfacher reiner Tabak."
Langsam stopfte er seine Pfeife, entzündete einen Holzspan an der Kerze auf dem Tisch, und steckte den Tabak in Brand. Nach den ersten Zügen schaute er Sirgal an. Er lächelte verschmitzt.
"Sirgal, ihr seid jemand, der viel reist, und viel herum gekommen ist. Und ihr seid jemand, der Geheimnisse trägt. Auch seid ihr mit Wesenheiten zusammen gekommen, die ich mir nicht mal im Traum vorstellen kann."
Langsam lehnte sich Shylock in seinem Stuhl zurück. "Und ihr seid jemand, der mit dem Drachenfest vertraut ist, und zwar schon seit langem. Denn ihr nennt den Grauen Avatar einfach nur den Grauen."
"Ja, und den Roten nenne ich den Roten, und die Silberne auch die Silberne..." sie schmunzelte. "Allerdings würde ich es nie wagen, eines dieser Wesen so anzusprechen."
Innerlich grinste Shylock breit. Diese Frau war goldrichtig, sie wußte mehr als sie zugeben wollte. Sie mußte auf dem Drachenfest gewesen sein, und zwar nicht nur einmal.
"Sirgal, ich will euch etwas sagen; ich gedenke meinen Auftraggeber zu enttäuschen. Denn diese Waffe darf niemals in die Hände von irgendjemanden fallen, sie würde das Gleichgewicht dieses Festes stören. Aber sie muß gefunden werden, um vernichtet zu werden."
Shylock schaute Sirgal an. "Nun wißt ihr alles, was mich zu euch geführt hat. Meine Schlussfolgerungen habe ich euch noch nicht erzählt, denn es fehlt mir immer noch einiges an Hintergrundwissen um eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen."
Shylock nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. "Und nun würde ich gerne wissen, mit wem ich es zu tun habe. Auch wenn ich schon einige Vermutungen geäußert habe."
"Sie wird nicht das Gleichgewicht des Festes zerstören, sondern das dieser Welt..." sagte Sirgal dunkel und voll von schwerem Unterton, der auf ein ganz anderes Wissen schließen ließ.
Shylock zuckte zusammen. Der ganzen Welt? Dann waren also seine Vermutungen richtig, auch wenn der Priester im Tempel der Acht ihn als Wahnsinnigen angesehen hatte. Die Drachen entsprachen den acht Göttern seiner Heimat.
Langsam sprach er, mehr zu sich selbst: "Der Graue Avatar, der Herr des Wissens, der Rote Avatar, der Herr des Krieges, der Blaue Avatar, Herr der Freiheit ...."
Shylock schaute hoch. "Sirgal, ihr seid mit dem Drachenfest verbunden. Wie ?"
"Wie genau entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich bin eine der alten Legendenweber, und ich habe schon die erste Drachenwelt gesehen und erlebt, was damals geschah. Derzeit bin ich Medium des Grauen Drachen." Sie ließ ihn bei ihren Worten nicht aus den Augen. Unter dem Tisch lag ein Dolch in ihrer Hand.
Shylock hatte die kaum wahrnehmbare Handbewegung von Sirgal gesehen. Innerlich seufzte er. Als ob er nicht Schutzmassnahmen ergriffen hätte, schliesslich stand er schon seit Jahren im Dienste der Patrizierfamilien und Adligen seiner Heimat. Diebe, Jungfrauenschänder, Mörder, Piraten, er hatte alles verfolgt, und er hatte immer überlebt.
"Sirgal, legt den Dolch, den ihr in eurer Hand haltet, weg." Langsam klappte er mit der rechten Hand den linken Ärmel seines Gewandes hoch. Darunter kam ein fein gewebtes Kettenhemd zum Vorschein. "Auch wenn ich den Anschein erwecke, das ich wehrlos bin, so bin ich doch auf meine Weise gefährlich."
Shylock schüttelte den Kopf. "Ich weiß, ihr kennt mich nicht, ihr wißt nicht, wie ihr mich einschätzen sollt. Wie soll ich euch beweisen, das ich es ehrlich meine?"
Der Dolch verschwand wieder. Klar und offen sagte Sirgal: "Das könnt ihr nicht." Dann jedoch griff sie nach ihrer Tasche und holte zwei Bücher, ein Schwarzes und ein weiß-grünes hervor. "Was wollt ihr wissen, Shylock?"
Shylock schaute auf die Bücher, dann schaute er Sirgal an; ein breites Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, so das er fast wie ein Lausbub aussah.
"Was ich wissen will? Eigentlich alles, was wissenwert ist, aber da wir uns ja hier über einen Mord unterhalten, etwas über die möglichen Drahtzieher, also den Avataren. Und etwas darüber, wie ein Champion zu seinem Avatar steht."
Sirgal seufzte schwer. Es würde ein langer Abend werden. Sie sah sich nach den Wirt um, und dabei wurden recht frische rote, wunde Stellen in ihrem Nacken und seitlich am Hals sichtbar. Wenig später bekam sie Wasser, verdünnten Met mit Kirschsaft und etwas zum Essen gebracht. Erst als der Wird wieder gegangen war, begann sie zu berichten: "Jedes Jahr wird auf dem Fest der Drachen entschieden, wer für die nächste Periode die Herrschaft hat. Das liegt in einem alten Streit begründet und dient dazu, das Machtstreben einzelner Drachen zu unterbinden. Im Jahr der zweiten Herrschaft des Grünen konnte aber einer Übermacht von Uruks, Orks und Goblins keiner der Drachen widerstehen und alle Banner fielen - auch wenn in jenem Jahr der Graue zurückgerufen wurde. Der Silberne hielt seinen schwarzen Bruder für daran Schuld - die beiden haben einen sehr sehr alten Streit. Es kam zu einem Kampf, bei dem beide schwer verwundet wurden. Ihr Blut mischte sich und es entstand im Urstrom ein neuer Drache - die Stählerne. Groß, schlank, strahlend - mit hellem Herzen aber von der Machtgier besessen, wie der Schwarze sie auch trägt." Sirgal trank etwas Wasser und sah Shylock an, ob er ihr soweit folgen konnte.
Shylock nickte. "soweit habe ich eure Ausführungen verstanden Sirgal. Silber und Schwarz sind die ... " Shylock überlegte ... "Die Eltern des Stählernen. Silber ist der Vertreter der Gerechtigkeit, des Wahren und Guten, während Schwarz der Vertreter der reinen Macht ist."
Während Shylock unauffällig die Wunden betrachtete, überlegte er; sollte er Sirgal sagen, wer bei ihm an erster Stelle der möglichen Anstifter des Mordes standen? Er entschied sich für ja.
"Sirgal, auch wenn Silber und Schwarz die Eltern von Stahl sind, so sind sie für mich beide der Anstiftung verdächtig. Und bevor ihr fragt, warum; keiner dieser Drachen konnte es ertragen, das ihr Kind hätte mächtiger werden können als sie beide zusammen."