Hrothgar zog die linke Augenbraue hoch. "Also nur das Bett, in dem jemand geboren wurde, entscheidet darüber, ob er oder sie herrschen darf? Mit allem Respekt vor eurem Land und vor euch, das ist ein saudämliches Gesetz."
Sein Gegenüber mußte nicht wissen, das schon einige solcher Herrscher durch seine Intrigen und auch direkten Eingriff ihren Kopf verloren hatten. Natürlich waren die Menschen nicht gleich, jeder hatte bestimmte Talente, aber das machte ihn nicht schlechter oder besser als seinen Nachbarn.
Mit einem dezenten "klong" fiel das Schnitzmesser auf den Boden. Der Junge sah mit erschrockenem Blick schnell Richtung Wirt und machte ebenso rasch eine beschwichtigende Handbewegung, nahm das Besser wieder auf und schnitzte weiter, sich noch kleiner machend in seiner Ecke, wohl in der Hoffnung, der Wirt würde ihn einfach gleich ganz vergessen.
"Ihr hört mir nicht zu," erklärte er. "Nicht die Abstammung, sondern die Veranlagung, die Talente, die Stärke macht Herrscher zu Herrscher, so wie es ihnen gebührt. Sie haben sich ihren Status verdient. Und wo bitte würde eine Welt enden, in der jedes Wesen als gleichwertig betrachtet wird. Ich bitte euch."
Er lachte. "Ihr vergesst die Lebenswelt des Neugeborenen. Wird dieses Menschenkind in einer Enklave der Elfen oder Orks oder wasweißich geboren, sicherlich nicht. Abgesehen davon sind einige begünstigter als andere. Rein auf das Äußerliche bezogen habt ihr sicher recht, aber wollt ihr irgendein Wesen auf genau das reduzieren?"
"Herr Jerkan, ihr seid ein wenig spitzfindig." Hrothgar grinste; genau das machte ihm Spaß. "Ein Neugeborenes ist überall gleich; es ist auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen, anderenfalls würde es wenige Tage nach seiner Geburt sterben. Natürlich sind die Menschen unterschiedlich, jeder hat seine Talente, mit denen sie auf die Welt gekommen sind. Der eine ist ein begnadeter Meister des Holzes, der andere ein Geschichtenerzähler, und so weiter und so fort. Aber alle haben die gleichen Wünsche und Sehnsüchte; ein friedliches Leben zu führen, seine Talente zu erweitern, nach Essen, Trinken, Liebe."
Hrothgar lächelte. "Ab und an steuere ich die Häfen von einem Inselreich im Süden an. Dort gibt es keinen Herrscher, sondern alle Menschen versammeln sich alle 7 Jahre, um aus ihrer Mitte eine Gruppe zu wählen, die dann die nächsten 7 Jahre herrscht. Sie nennen dies den Rat des Volkes."
Der Knabe sah erneut auf. Ein Lächeln huschte über seine Lippen in dem, im gegensatz zu den tiefschwarzen Haaren, blassen Gesicht. Er schien zufrieden - auf eine Art und Weise.
Kurz darauf erhob er sich und ging zügigen Schrittes, in einem Moment, in dem der Wirt sich nicht nach ihm umsah, aus dem Schankraum nach draussen. Vor dem Fenster raschelte es und ein Vogel schien sich in die Luft zu erheben, ein Schatten sichtbar, kurz nur, dann war es wieder still.
Einzig die geschnitzte Figur lag noch im Halbschatten der Ecke wo er gesessen hatte, wo helle, feine Holzflocken die Erde bedeckten.
Hrothgar war es gewöhnt, Jungen wie den Kleinen immer im Auge zu haben; in den Häfen waren sie oft zu sehen, und wurden allgemein als Hafenratten genannt. Sie kannten ihre Väter nicht, ihre Mütter waren durch Schläge des Schicksals gezwungen, als Hübschnerinnen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Hafenratten waren fast alle Diebe, und man tut daran, sie im Auge zu behalten und die Taschen fest geschlossen.
Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er, wie der Junge nach draussen ging, und verschwand. Nun stand er auf, und ging in die Ecke, wo die Holzfigur lag.....
"Spitzfindig? Naja, ich sehe es eben etwas differenzierter. Es gibt nunmal mehrere Faktoren, die ein Kind, ein neugeborenes Wesen beeinflussen. Und nein, Chancengleichheit ist eine reine Illusion, die sich viele einreden wollen."
Dann folgte er mit den Augen dem Seemann, bleib aber sitzen.
[ Merkt man mir den Soz.-Wissenschaftler an? *hust* ]
Hrothgar kniete nieder, und nahm die Schnitzerei, die der seltsame Junge hinterlassen hatte in die Hand; eine Maske, was sie wohl zu bedeuten hatte? Unangenehme Erinnerungen an Weltenwacht tauchten auf.....
Er stand wieder auf, und ging zu seinem Tisch. Er hatte zwar gesehen, das Sirgal den Raum verlassen hatte, aber er war nicht enttäuscht. Auf die Hilfe von Sirgal mußte er wohl verzichten, also war ein anderer Plan von nöten.
"Ich spreche nicht Chancengleichheit Herr Jerkan, ich spreche von gegenseitigem Respekt und dem Einsatz der Fähigkeiten des Einzelnen zum Wohle aller. Ich halte nichts von Herrschern, die nur aufgrund eines seltsamen Erbrechts auf einem Thron landen, oder aber sich durch absolut rücksichtlosen Verhaltens diesen erobern. Inat Laronn ist so ein Beispiel dafür."
"Ich rede nicht vom Erbrecht, das ist naja... lassen wir das. Dennoch lebe ich in einer Gesellschaft, in der derjenige herrscht, der sich gegen die anderen durchsetzt." Er dachte eine Weile nach. "Ja, Inat Laronn, wäre demnach ein solcher, dem stimme ich zu. Dennoch steht das, was er verkörpert, das, was er predigt, doch in einem krassen Gegensatz zu dem, was der Herrscher in meinem Land darstellt.
"Er hatte sogar gesagt, wenn die Stadt keinen Widerstand leistet, würde niemand mehr verletzt werden. Und das meinte er völlig ernst." Sirgal kam in anderer Hose und weicheren Schuhen langsam an den Tisch zurück. Sie setzte sich wieder und legte das Bein hoch. Dann nahm sie erneut von dem warmgestellten Tee und genoß ihn langsam.
Hrothgar schaute Sirgal total erstaunt an:" Er hat WAS gesagt?" Schallendes Gelächter erfüllte den Raum. "Beim Blauen, was soll dann das ganze Gerufe der Kaiserin? Anscheinend will die Dame nur nicht ihren Thron verlieren!"
Dann schaute er Jerkan an:"Ihr sagtet vorhin, das ihr euch mit Reisen in der Zeit auskennt. Sagt mir Jerkan, was könnte schlimmstenfalls passieren, wenn Inat Laronn die Stadt einnimmt? Die Vernichtung der ersten Drachenwelt ist ja passiert, also warum sollten wir aus der zweiten Drachenwelt noch weiter unser Leben für eine Kaiserin riskieren, die anscheinend nicht gewillt ist, ihr komfortables Leben zu Gunsten der Stadt aufzugeben?"
Wieder schaute er Sirgal an:"Ehrlich gestanden bin ich nicht mehr so sicher, ob für mich eine zweite Reise nach Weltenwacht noch in Frage kommt. Denn wenn er der Sohn des Roten ist, dann hat er genug Ehre im Leib, um dieses Versprechen auch zu halten."