"Er ist sehr zahm", stellt Sirgal leise fest, froh, es mit etwas reinem, natürlichem zu tun zu haben. Vorsichtig legt sie die Hand auf den Tisch, bietet ihm aber die Linke an, die Rechte geschützt bei sich behaltend.
Der Falke sieht die Bewegung der fremden Hand und sofort hat Sirgal seine vollste Aufmerksamkeit. Zaghaft und langsam streckt er den Kopf nach vorn und mustert die Botin neugierig. Ein kleiner Schritt auf sie zu, eine kurze Pause und dann noch ein weiterer Schritt. Ganz vorsichtig berührt der Vogel die dargebotene Hand mit dem Schnabel. "Ich habe ihn vor einer Ewigkeit als Jungvogel verletzt gefunden.", erzählt Amira, "Ein Flügel war nicht ganz in Ordnung. Ich habe in gepflegt und wieder entlassen. Von Zeit zu Zeit taucht er mal auf und manchmal ist er so nett und transportiert dringende Nachrichten für mich." Sie lacht kurz auf. "Manchmal habe ich direkt den Eindruck, der Kerl versteht alles, was ich ihm sage."
Sirgal hatte einmal beobachtet, wie ein Falkner einem seiner Vögel den Kopf kraulte, als der den Schnabel verbarg. So reckte sie einen Finger und begann, dem Tier durch die winzigen, kleinen, weichen Federn am Kopf zu streichen. Mehr wagte sie nicht, denn sie hatte gehört, dass die Falkner nur eine große Feder benutzten, um die Tiere zu streicheln, damit ihr Federkleid nicht beschädigt wurde. "Gehen ihre Federn wirklich so schnell kaputt?" fragte sie deshalb.
Die Botin fragte zwar nach dem Vogel, war aber immernoch wie abwesend. Das wunderschöne Tier war ihr aber gerade genauso eine Hilfe, wie es ein Pferd gewesen wäre - oder jeder Unfall. So bitter das klang, es gab Dinge, mit denen Sirgal immer aus einer Starre würde gelöst werden können... Die Heilerin in ihr war so manifest, dass sie in jeder Schlacht einfach 'funktionierte', ohne nachzudenken. Dabei vergaß sie alles um sich herum, denn es waren zu viele Schlachten gewesen, in denen sie ohne Rücksicht auf sich selbst durch die Reihen gegangen war, um jene zu versorgen, die der Hilfe bedurften. In solchen Momenten gab es kein 'ich' mehr für Sirgal, sondern nur noch jene, um die sie sich sorgte - und damit Freiheit in ihrem Kopf...
"Na ja- zu sehr dran ziehen oder ihn wie einen Hund knuddeln, sollte man besser nicht.", anwortet Amira, "Ich habe ihn damals von vornherein an die Hand gewöhnt, habe ihn gefüttert und gekrault. Angefangen habe ich mit einem Stöckchen, das ich mit der Zeit immer kürzer gemacht habe. Er hat recht schnell gelernt, dass er vor meiner Hand nichts zu befürchten hat."
Amira beobachtet Sirgal aufmerksam. Irgendwas musste vorgefallen sein; irgendwas, was sie sehr erschreckt hatte. Sie beschliesst vorerst nicht weiter nachzubohren, wo Sirgal augenscheinlich gerade dabei war zu einer gewissen Normalität zurückzukehren. Dem Vogel scheint die Berührung der Botin sehr zu gefallen; er legt den Kopf schief und dreht ihn noch weiter in ihre Hand. Amira lächelt und durchsucht ihre Gürteltaschen. "Irgendwo hatte ich doch noch...", murmelt sie und wird nach einiger Zeit fündig, "Ah, da ist es ja." Ein Stückchen Trockenfleisch wird zu Tage gefördert und Amira reicht es Sirgal. "Versuch' ihn doch mal zu Füttern- er liebt dieses Zeug.", bietet sie an.
Ganz langsam nimmt Sirgal das Fleisch mit der anderen Hand. Die Augen bleiben umwölkt, und bei allem was sie tut, wirkt sie langsam und dennoch verschreckt. Sacht bietet sie dem Vogel das Fleisch an...
Dieser mustert das Fleischstück und die Hand, dann Sirgal selbst. Er legt wieder den Kopf schief und stösst ein leises 'Fiepsen' aus. Der Falke zögert einen Moment lang und stösst das Fleisch erst ein wenig mit dem Schnabel an, bevor er es sacht aus der Hand zieht, mit einem Fuss auf dem Tisch fixiert, anschliessend auseinanderpflückt und fein säuberlich verputzt. Amira lächelt bei dem Anblick. "Siehst Du? Er ist ganz vorsichtig."
Sirgal lächelt matt. Still beobachtet sie den Vogel, dochihre Augen werden dunkel. Zerrissenes Fleisch, eine Maschine, die haltlos durch die Reihen brach. Schreiende Menschen, Blut und Tod... Sie schauderte.
Nachdem der Vogel sein Leckerchen vertilgt hat, fiepst er Sirgal wieder an- frei nach dem Motto 'Hast Du noch mehr?' "Kleiner Gierschlund.", lächelt Amria und streicht ihm sacht über einen Flügel. Dann fällt ihr Blick auf Sirgal. Nein. Irgendwas war ganz und garnicht in Ordnung. Sacht legt sie der Botin eine Hand auf den Arm. "Ist alles in Ordnung?", fragt sie sanft.
Amira beugt sich halb über den Tisch und ignoriert dabei ihre protestierende Prellung. Ihre Augen suchen die ihrer Gegenüber. "Was ist denn los?", fragt sie erneut mit ruhiger Stimme.
Sirgal starrt vor sich auf die Tischplatte. Die Geräusche Draußen lassen wie immer mal wieder zusammenschrecken. "Ich... habe angst, Amira", flüstert sie.
Amira verdreht den Kopf, um Sirgal halbwegs in die Augen sehen zu können. "Wovor denn?", fragt sie sanft- auch sie hört die Geräusche von draussen; das hydraulische Zischen der Jacks, sowie die allgemeine Geräuschkulisse, die bei Aufräumarbeiten anfällt. Ihr fällt auf, dass Sirgal immer wieder zusammenzuckt- mit schöner Regelmässigkeit der Geräusche der Jacks. "Du bist hier in Sicherheit.", fährt sie nach einer kurzn Pause fort, "Solang dieses Drachenviech nicht wieder auftaucht, musst Du Dir keine Gedanken machen. Niemand hier würde Dir etwas antun."
"Was... geschieht mit unserer Welt, Amira?" fragte sie mit zitternder Stimme. "Was wird sein, wenn die Mechanisten die Macht an sich reißen? Wenn die Magie vergeht und wir vergessen werden?" Tränen liefen ihr über die Wangen.